Mit einem munteren „Da haben Sie sich aber eine interessante Zeit ausgesucht, um in den Schuldienst einzusteigen“ werde ich von meinem zukünftigen Schulleiter begrüßt. In der Tat, ein wohl einzigartiger Zeitpunkt, um in den Schuldienst zu starten. Sechs Jahre Studium liegen hinter mir und ich trete nun meine erste Stelle als Lehrer an. Und das in einer Zeit, in der selbst langjährig erfahrene Lehrer*innen ihren Unterricht auf den Kopf stellen müssen.
Doch mein vermeintlich schwieriger Start fühlt sich gar nicht so herausfordernd an oder besser gesagt: Nicht aufgrund der „allgemeinen Corona-Lage“ fühlt es sich schwierig an. Vielmehr habe ich den wohl unter jungen Lehrer*innen üblichen Respekt vor dem täglichen Classroom-Management in Klassen mit 30 Schüler*innen. Und mir stellen sich Fragen: Was für eine Art von Lehrer möchte ich sein? Und wie schaffe ich es dann, so zu werden?
So gravierend diese Fragen wirkten, so sehr ich mir zuvor im Kopf mögliche Szenarien im Klassenraum durchgespielt habe, so schnell verpuffen diese Sorgen nach meinem Start zunächst. Die Schüler*innen entpuppen sich als durchweg freundlich, die Kolleg*innen zeigen sich hilfsbereit und unterstützend.
Die berühmte Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung
Die ersten Wochen des aufregenden neuen Alltags vergehen und ich bin überrascht über die sich schnell einstellende Routine. Entgegen meiner Erwartung „klappt“ der Unterricht. Pläne gehen im Großen und Ganzen auf und auch mit der eigenen Belastung durch die neue Tätigkeit komme ich gut klar.
Doch nach einigen Woche wird ein Eindruck zunehmend stärker: Mir fällt es schwer, die Gedanken und Empfindungen meiner Schüler*innen einzuschätzen. Ist das Thema interessant? Oder ziemlich langweilig? Ist das noch Müdigkeit oder schon Desinteresse? Das hatte ich mir zuvor anders vorgestellt, möchte ich doch ein nahbarer Pädagoge sein, der ein besseres Gefühl für seine Schüler*innen hat.
Und so rückt dann doch das Thema Corona in den Mittelpunkt. Ist es vielleicht schwieriger geworden, eine Beziehung aufzubauen? Fordern also der Verzicht auf dynamische Unterrichtssettings, das Maskentragen und Abstandhalten seinen Tribut? Ich nehme mir fest vor, in meinem Unterricht mehr Raum für „Beziehungsarbeit“ zu schaffen.
Belastet durch Corona
Nur kurz nach dieser Erkenntnis präsentiert sich die Gelegenheit, mit meinen Schüler*innen intensiver ins Gespräch zu kommen. Schon in der Pause vor einer Doppelstunde mit meinem Oberstufenkurs ist eine große Unruhe zu bemerken – aufgeregte Gespräche flirren durch den Raum. Zwei Schüler*innen waren ohne ihr Wissen trotz Corona-Erkrankung zur Schule gekommen. In der Folge wurden deshalb in der vorherigen Unterrichtsstunde einige Mitschüler*innen direkt aus dem Klassenzimmer in die häusliche Quarantäne geschickt.
In einer Region mit schon über Wochen andauernden hohen Infektionszahlen scheint dies keine große Besonderheit. Die Willkür hingegen, mit der das Gesundheitsamt Quarantäne für den einen Schüler, nicht aber für eine andere Schülerin anordnete, macht die Schüler*innen an diesem Tag fassungslos. Das zu diesem Zeitpunkt kategorische Ausschließen des Wechselmodells nennen die Schüler*innen „respektlos“. Sie berichten von über Monaten nicht gesehenen Verwandten und ihnen ist sehr wohl bewusst, dass sie mit ihren fast 18 Jahren zumindest ähnlich infektiös wie Erwachsene sind.
Schlussendlich diskutieren wir einen beträchtlichen Teil der Stunde die aktuelle Situation an unserer Schule und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in unserem Bundesland. Ich versuche Perspektiven zu eröffnen und politische Entscheidungen nachvollziehbar zu machen, muss aber innerlich nahezu jeder Kritik an den aktuellen politischen Maßnahmen zustimmen.
Neu lernen, Nähe herzustellen
In dieser Situation hatten die Emotionen der Schüler*innen Raum und wir konnten über Themen diskutieren, die sie bewegen – unabdingbar für guten Politikunterricht und genau das, was ich zuvor vermisst hatte. Und die Diskussion macht auch deutlich, dass die Veränderungen unseres Alltags durch die Pandemie dem aufmerksamen Miteinander eine neue Relevanz geben. Die Entbehrungen durch die Eindämmungsmaßnahmen gehen natürlich auch an den Schüler*innen nicht spurlos vorbei. Corona bringt für uns alle Belastungen mit sich – für die Schüler*innen, die ihre Freund*innen nicht sehen können, für Familien, die seit neustem nun doch wieder auf engstem Raum im Homeschooling klarkommen müssen.
Vor kurzem macht der Bericht über eine Wuppertaler Lehrerin die Runde. Artikeln zufolge hat eine Lehrerin mit ihren Schüler*innen Codes vereinbart, mit welchen diese verschlüsselt die Lehrerin auf eine häusliche Gefahrensituation aufmerksam machen können. In einem Fall konnte durch diese Absprache wohl ein Schüler vor Gewalt zu Hause geschützt werden.
Auch wenn diese Geschichte nur spärlich belegt ist und deshalb nur vereinzelt auf Internetseiten darüber berichtet wird, sind solche Fälle nicht nur vorstellbar, sondern unbestritten Realität in Deutschland. Das war schon vor Corona so, aber ein Lockdown verschärft die Situation.
Und wir Lehrer*innen sind es nun, die eine entscheidende Hilfe für Schüler*innen darstellen können. Wir sind es, die Veränderungen von Schüler*innen bemerken können. Und deshalb sollten wir, wenn jetzt wieder auf Distanz gelernt wird, die Beziehungen aufrechterhalten. Digitales Lernen muss nicht anonym sein. Lasst uns kreativ sein und das Persönliche und Menschliche in die Videokonferenzen bringen. Warum nicht mehr Raum für Befindlichkeiten im Unterricht einräumen? Warum nicht Schüler*innen auch in kleineren Gruppen sprechen, um wirklich von jedem*jeder Schüler*in etwas mitzubekommen? Ich freue mich, mit euch über die Ideen und Möglichkeiten ins Gespräch zu kommen. Unsere aufmerksamen Augen und unsere Unterstützung werden gebraucht – mehr denn je.