Die Schule möchte Schüler*innen zu selbstständigen Menschen in der Gesellschaft erziehen und bilden. Dazu passend ist Selbstorganisiertes Lernen ein umfassender, innovativer Unterrichtsansatz, der selbstständiges, aktives und eigenverantwortliches Lernen von Schüler*innen fördern möchte. In diesem Artikel geben wir einen Überblick über die Grundideen des Konzepts.
Was ist Selbstorganisiertes Lernen (SOL)?
Zunächst ein kleiner Disclaimer: Das Konzept des Selbstorganisierten Lernens wurde in den 1990er Jahren von Birgit Landherr und Martin Herold in Baden-Württemberg entwickelt und erprobt. In den folgenden Darstellungen orientieren wir uns an ihren Ideen, verkürzen diese aber auch oder wandeln sie ab. Ausführlich lassen sich die Grundideen, Vorschläge für die Umsetzung im Unterricht und Möglichkeiten der Leistungsbewertung in ihren Veröffentlichungen nachlesen (z.B.: Landherr, Birgit, und Manfred Bürger. SOL – Selbstorganisiertes Lernen: systematische Kompetenzentwicklung in einer komplexen Welt. 3., Überarbeitete Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2019.)
Selten kommen wir Lehrer*innen in die Situation uns zu fragen: Was möchten wir eigentlich unterrichten? Ausgestattet mit welchen Kompetenzen sollen unsere Schüler*innen idealerweise unsere Schule verlassen?
Das Konzept des Selbstorganisierten Lernens fußt auf den Antworten auf genau diese Fragen diese Fragen. Die Grundsätze lassen sich auf zwei wesentliche Punkte herunterbrechen:
- Notwendigkeit: Schüler*innen müssen sich nach dem Verlassen der Schule in einer Welt zurechtfinden, die sich schnell verändert und die komplex ist. Was richtig und was falsch ist, ist heute nicht leicht zu sagen. Auch in späteren Berufen müssen die Schüler*innen für Probleme Lösungen entwickeln. Das Selbstorganisierte Lernen erkennt diese Bedingungen unseres Lebens an und möchte deshalb Schüler*innen dazu befähigen, sich selbst zu organisieren, also selbst Wege zu finden und dabei auf die passenden Mittel zurückzugreifen.
- Bedürfnisse: Hand in Hand mit der Notwendigkeit gehen auch die menschlichen Bedürfnisse. Im Selbstorganisierten Lernen geht man davon aus, dass Menschen eine grundsätzliche Fähigkeit haben, sich selbst in Hinblick auf ein Ziel oder einen Zweck zu optimieren. Diese Optimierung des eigenen Plans (Wie erreiche ich effizient und effektiv meine Ziele?) ist letztlich ein Lernprozess. Die mit der Optimierung des Lernprozesses einhergehende Verantwortungsübernahme im Lernen wirkt motivierend, da Schüler*innen Autonomie und zunehmend eigene Kompetenz erleben.
Was bedeutet Selbstorganisiertes Lernen?
Gehen wir zunächst nochmal einen Schritt zurück und klären, was wir meinen, wenn wir über Selbstorganisiertes Lernen sprechen. Selbstorganisation bedeutet hier, dass Mittel, Wege und Produkte zur Erreichung eines Lern- oder Kompetenzziels nicht festgelegt sind. Ganz allgemein gesprochen bedeutet es, dass ein Unterrichtsarrangement gewisse Freiheitsgrade besitzt, die Schüler*innen nach eigenen Wünschen gestalten können. Gleichzeitig werden die Schüler*innen fortlaufend darin geschult, den besten eigenen Lernweg zu finden.
Damit ist das Selbstorganisierte Lernen grundsätzlich kompatibel mit den verschiedenen Lehrplänen. Denn auch wenn Schüler*innen Freiheiten im Prozess eingeräumt werden sollen, kann zu festgelegten Themenbereichen mit vorgegebener Kompetenzentwicklung gearbeitet werden.
Zusammenfassend bedeutet Selbstorganisiertes Lernen also, danach zu fragen, an welchen Stellen Schüler*innen Freiheiten im Lernarrangement gegeben werden können und wie sie unterstützt werden können, diese Freiheitsgrade im Sinne ihres individuell bestmöglichen Lernwegs zu gestalten.
Welche Vorteile bietet selbstorganisiertes Lernen?
Lernen ist ein individueller Prozess – ob bezogen auf das Tempo, die benötigten Rahmenbedingungen oder den Lernweg. Aus der Unterrichtsforschung sind Faktoren bekannt, die lernförderlich wirken. An diesen Grundsätzen sollte sich das Handeln der Lehrkraft orientieren:
- Schüler*innen müssen sich als kompetent erleben, also das Gefühl haben, dass sie der Aufgabe gewachsen sind. Sie benötigen eine Unterstützung bei dem Erwerben der dafür notwendigen Kompetenzen.
- Außerdem sollten die Schüler*innen die Möglichkeit erhalten, selbst ihren Lernprozess zu kontrollieren.
- Die Lernumgebung muss angstfreies Lernen ermöglichen und sollte explizit Phasen aufweisen, in denen Schüler*innen bewertungsfrei arbeiten können.
- Schlussendlich sollte sich die Lehrkraft bemühen, Aufgabenstellungen zu finden, die an der Lebenswirklichkeit der Schüler*innen orientiert sind und/oder einen Problembezug aufweisen.
Ein Lernarrangement nach Grundsätzen des Selbstorganisierten Lernens mit den dazu passenden Methoden zahlt insbesondere auf den Aspekt der Kontrolle des Lernprozesses ein. Die weiteren genannten Faktoren sind nicht unbedingt notwendige Faktoren eines Lernarrangements nach Selbstorganisiertem Lernen, sollten aber im Sinne einer lernförderlichen Umgebung berücksichtigt werden.
Gemeinsam oder allein lernen?
Eine Individualisierung des Lernprozesses scheint ein Gegensatz zu Kooperation im Unterricht zu sein. Das Selbstorganisierte Lernen räumt dem kooperativen Lernen dennoch einen hohen Stellenwert ein. Das wird mit zwei Argumenten begründet: Die Schüler*innen lernen in einer sozialen Bedeutung, dass sie auch Aufgaben mit Personen lösen müssen, mit denen sie sonst nicht zusammenarbeiten würden. Noch wichtiger ist es aber, dass sie anhand komplexer Aufgabenstellungen lernen, dass es Aufgaben gibt, die sich nicht allein bewältigen lassen.
Zusammenfassend bedeutet das, dass es in einem SOL-Lernsetting gleichermaßen individuelle und kollektive Arbeitsphasen geben sollte. Die Autor*innen des Konzepts schlagen dafür ein Vorgehen nach dem Sandwich-Prinzip vor, nach dem sich kollektive und individualisierte Lernphasen systematisch abwechseln.
Wie kann ein SOL-Lernarrangement bei mir aussehen?
Einen wichtigen Punkt wollen wir an dieser Stelle direkt deutlich machen: Es gibt kein allgemeines Rezept für die Umsetzung von Selbstorganisiertem Lernen an einer individuellen Schule. Das liegt daran, dass die Schulgemeinschaft sich einige Fragen stellen muss, von deren Antworten die Umsetzung des Konzepts abhängen:
- Sehen wir gemeinschaftlich Bedarfe, um unseren Unterricht neu auf die Grundsätze des Selbstorganisierten Lernens auszurichten?
- Wenn ja, welche strukturelle Umsetzung wollen wir vornehmen?
Wenn eine Schule das Selbstorganisierte Lernen einführen möchte, muss ein Konzept erstellt werden, aus dem ersichtlich wird, in welchen Klassenstufen welche Kompetenzen für das Selbstorganisierte Lernen wie erlernt werden sollen. Dabei handelt es sich in der Regel um einen Schulentwicklungsprozess, also ein länger dauerndes Unterfangen. Trotzdem lohnt es sich, da gerade gemeinschaftliches Handeln in einem abgestimmten Vorgehen die Vorteile eines Konzepts zur Wirkung bringt.
Und selbst wenn es keinen übergeordneten Schulentwicklungsprozess gibt, kann man die Prinzipien des Selbstorganisierten Lernens im eigenen Unterricht einsetzen. Einige Methoden wären z.B.:
- Wochenplanarbeit: Schüler*innen erhalten einen Wochenplan mit Aufgaben, die sie in den zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden der Wochen bearbeiten müssen,
- Lernbüros: Schüler*innen erhalten feste Unterrichtszeiten, in denen sie frei Aufgaben üben sollen,
- Stationenlernen: im Unterricht bearbeiten die Schüler*innen Aufgaben an verschiedenen Stationen.
Letztlich sind zahlreiche Möglichkeiten der Umsetzung denkbar. Allen gemein ist, dass das Lernarrangement Freiheitsgrade erlauben muss und dass entsprechende Werkzeuge zur Reflexion des Prozesses bereitgestellt werden sollten. Zusätzlich muss anerkannt werden, dass eine Lernkultur sich träge ändert. Schüler*innen haben, abhängig von der Jahrgangsstufe, bereits umfassende Erfahrungen in der Schule gemacht. Wenn sich nun Abläufe oder Erwartungen an sie ändern, braucht es Zeit und einen eigenen Lernprozess bis die Schüler*innen es verinnerlicht haben. Das bedeutet für die Implementierung im eigenen Unterricht, die eigenen Erwartungen immer wieder klar zu kommunizieren und erst schrittweise den eigenen Unterricht hin zur Selbstorganisation zu entwickeln. Hilfreich ist es dabei, Abläufe zu ritualisieren, damit für die Schüler*innen zunehmend die Struktur des Unterrichts und die an sie gestellten Erwartungen klarer werden.
Was ändert sich durch selbstorganisiertes Lernen für mich als Lehrkraft?
Wenn die Schüler*innen eigene Verantwortung für den Lernprozess übernehmen, bedeutet das vor allem, dass die Lehrkraft weniger steuern muss. Die Phasierung durch die Lehrkraft wird schrittweise abgelöst durch eine eigene Strukturierung der Lernenden. Lehrer*innen gewinnen dadurch vor allem Freiraum. Dieser kann z.B. für die gezielte Unterstützung von Lernenden genutzt werden. Es wird immer Schüler*innen geben, die Hilfe brauchen. Für die Förderung dieser Schüler*innen hat man nun mehr Zeit. Insgesamt ändert sich also die Rolle hin zu einer Lernbegleitung.
Natürlich muss auch der Unterricht anders geplant und vorbereitet werden. Das Lernsetting muss so gestaltet sein, dass Freiheitsgrade möglich sind. Das bedeutet in den meisten Fällen zunächst Mehrarbeit, da z.B. thematisch verschiedene Fragestellungen vorbereitet werden, unterschiedliche Niveaustufen abgedeckt werden müssen oder verschiedene Methodenblätter bereitgestellt werden, die Schüler*innen Möglichkeiten zur Umsetzung eines Lernprodukts zeigen. Doch die Vorbereitung lohnt sich, da dieses Lernsetting für die Schüler*innen einen differenzierten, individualisierten Lernprozess erlaubt.
Schlussendlich muss sich die Notengebung verändern. Schüler*innen werden unterschiedliche Themen bearbeiten und unterschiedliche Lernprodukte erzeugen. Gleichzeitig sind sie gefordert, regelmäßig das eigene Lernen zu reflektieren. Die Notengebung sollte transparent sein, Prozessmerkmale berücksichtigen und individualisiert auch auf die Reflexionsleistung der Schüler*innen eingehen.
Fazit
Selbstorganisiertes Lernen bedeutet, bei Schüler*innen selbstständiges, eigenverantwortlichen Lernen durch zugelasssene Freiheitsgrade zu schulen. Mit den richtigen Lernarrangements rücken die Lernenden und ihre individuellen Bedürfnisse in den Fokus des eigenen Lernprozesses, während die Lehrkraft in eine beratende Rolle übergeht.
Wir hoffen, wir konnten euch einen Überblick über das Selbstorganisierte Lernen geben. Könntet ihr euch vorstellen, es in eurem eigenen Unterricht einzuführen? Hinterlasst uns gerne einen Kommentar oder schreibt uns!